Warum ein Barrierefreiheitsstärkungsgesetz? Betroffene Menschen berichten aus ihrem digitalen Alltag
Warum ist digitale Barrierefreiheit relevant?
In Deutschland sind mehr als 13 Millionen Menschen beeinträchtigt; von diesen sind 7,8 Millionen Menschen dauerhaft schwerbehindert. Europaweit oder gar weltweit vervielfachen sich die Zahlen.
Es gibt verschiedenste Arten von Behinderungen, die digitale Barrierefreiheit erfordern. Solche Behinderungen sind zum Beispiel:
- motorische Einschränkungen
- körperliche Einschränkungen
- Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit
- Sehbehinderung, Rot-Grün-Sehschwäche, Seheinschränkung aufgrund des Alters, Blindheit
- kognitive Einschränkungen wie Lerneinschränkungen
- temporäre Einschränkung z.B. u.a. durch Unfälle, Operationen, Medikamente, Baby auf dem Arm.
Noch dazu altert unsere Gesellschaft, sodass der Bedarf nach Barrierefreiheit größer werden wird.
Betroffenenbericht: Lillys Leben mit einer Hand- und Armprothese
Mein Name ist Lilly, ich bin 34 Jahre alt und arbeite als Content-Managerin. Vor fünf Jahren habe ich bei einem Autounfall meine rechte Hand und einen Teil meines Unterarms verloren. Seitdem begleitet mich meine Hand- und Armprothese – ein Hightech-Gerät, das mir Bewegungsfreiheit zurückgegeben hat, aber auch Herausforderungen mit sich bringt.
Alltag mit der Prothese
Die Prothese ist ein Werkzeug, das mir unglaublich hilft, aber sie ersetzt keine natürliche Hand. Alltagssituationen, die früher nebenbei liefen, kosten mich heute oft Zeit und Konzentration. Zum Beispiel das Binden meiner Schuhe – eine simple Aufgabe, die ich jetzt mit einer Hand und der Hilfe der Prothese erledige. Ich habe gelernt, geduldiger zu sein, aber manchmal frustriert es mich, wenn etwas nicht so klappt wie geplant.
Im Haushalt brauche ich spezielle Hilfsmittel, wie rutschfeste Unterlagen oder angepasste Küchenutensilien, um Dinge wie Gemüse zu schneiden oder Gläser zu öffnen. Es ist ein Balanceakt zwischen meiner linken Hand, der Prothese und meiner Kreativität, alternative Wege zu finden.
Arbeit am Computer
Mein Beruf als Content-Managerin erfordert viel Arbeit am Computer – und hier kommt die Prothese wieder ins Spiel. Ich habe eine spezielle Maus, die ich mit der Prothese bedienen kann, aber auch das erfordert Übung und Präzision. Tippen ist eine andere Herausforderung. Meine Prothese hat keine Sensibilität, sodass ich oft nur mit meiner linken Hand schreibe. Für längere Texte nutze ich Spracherkennungssoftware, die mir hilft, schneller zu arbeiten. Aber das bedeutet auch, dass ich meine Gedanken klar formulieren muss, was nicht immer einfach ist.
Was mir besonders fehlt, ist das intuitive Multitasking. Früher konnte ich eine E-Mail schreiben und gleichzeitig eine Notiz machen oder einen Kaffee trinken. Jetzt geht alles nacheinander – eine Aufgabe zur Zeit.
Internetrecherche und technische Barrieren
Wenn ich etwas im Internet recherchieren möchte, bin ich ebenfalls eingeschränkt. Webseiten sind oft nicht barrierefrei gestaltet. Kleine Schaltflächen oder komplexe Menüstrukturen sind mit der Prothese schwierig zu navigieren. Manchmal hilft mir die Sprachsteuerung meines Computers oder Smartphones, aber das funktioniert nicht immer reibungslos.
Ein weiteres Problem sind Captchas – die Bilderrätsel, die beweisen sollen, dass man kein Roboter ist. Diese sind für Menschen mit eingeschränkter Feinmotorik wie mich eine echte Hürde. Manchmal brauche ich mehrere Anläufe oder muss jemanden bitten, mir zu helfen. Das ist frustrierend und fühlt sich oft wie ein unnötiges Hindernis an.
Emotionale Konsequenzen und Perspektiven
Es gibt Tage, an denen ich stolz bin, was ich alles schaffe – und dann gibt es Momente, in denen ich mich ausgeschlossen fühle. Besonders bei Aufgaben, die scheinbar für Menschen ohne Einschränkungen entwickelt wurden, merke ich, dass unsere digitale Welt noch nicht vollständig inklusiv ist.
Doch es gibt auch positive Entwicklungen. Ich habe durch meine Situation eine neue Form der Resilienz entwickelt. Und ich schätze technische Hilfsmittel, die mein Leben erleichtern, wie nie zuvor.
Mein Wunsch ist, dass sich die digitale Welt weiterentwickelt – hin zu mehr Barrierefreiheit. Ich glaube, dass wir mit den richtigen Technologien und einem Bewusstsein für die Bedürfnisse aller Menschen Großes erreichen können. Bis dahin werde ich weiterhin Lösungen finden und meinen Alltag so gestalten, wie es für mich funktioniert – Schritt für Schritt, Klick für Klick.
Betroffenenbericht: Tom ist stark sehbehindert
Ich bin Tom, 42 Jahre alt, und seit meiner Kindheit stark sehbehindert. Für mich bedeutet das, dass ich ohne Hilfsmittel so gut wie nichts lesen oder erkennen kann – weder auf Papier noch auf Bildschirmen. Mein Alltag und meine Teilhabe am digitalen Leben sind durch diese Einschränkung geprägt.
Alltag mit einer Sehbehinderung
Mein Tag beginnt mit Hilfsmitteln. Ich nutze eine spezielle App auf meinem Smartphone, die mir Texte vorliest oder Farben erkennt. Wenn ich einkaufen gehe, scanne ich Barcodes mit einer App, die mir sagt, welches Produkt ich in der Hand halte. Das ist praktisch, aber auch zeitaufwendig. Manchmal wünsche ich mir einfach, einen Joghurt oder eine Konservendose ohne technische Unterstützung zu finden.
Im öffentlichen Raum stoße ich oft an Grenzen. Beschilderungen, Fahrpläne oder Informationen auf Displays sind für mich meist nicht lesbar. Viele Städte sind zwar zunehmend barrierefrei, aber längst nicht überall. Besonders schwierig wird es, wenn Menschen unachtsam sind, wie etwa E-Scooter auf Gehwegen abstellen, die für mich zu gefährlichen Stolperfallen werden.
Digitale Teilhabe – Chance und Herausforderung
Das Internet ist für mich ein Segen und eine Herausforderung zugleich. Mit der richtigen Technik kann ich auf viele Inhalte zugreifen, die mir sonst verborgen blieben. Screenreader – Programme, die mir Texte vorlesen – sind meine wichtigste Unterstützung. Sie machen es mir möglich, E-Mails zu lesen, zu arbeiten und im Netz zu surfen. Doch auch diese Tools stoßen an Grenzen.
Viele Webseiten sind nicht barrierefrei. Wenn Bilder keine Alternativtexte haben oder die Navigation unübersichtlich ist, kann ich sie nicht nutzen. Besonders frustrierend ist das bei Onlineshops oder Behördenseiten, wo ich auf andere angewiesen bin, um meine Anliegen zu erledigen.
Auch Social Media ist für mich ein zweischneidiges Schwert. Plattformen wie Instagram oder TikTok sind visuell ausgerichtet und für mich schwer zugänglich. Zwar gibt es Fortschritte, wie automatische Bildbeschreibungen, aber diese sind oft ungenau. Das führt dazu, dass ich manchmal nicht verstehe, worüber sich andere gerade unterhalten oder worauf sich ein Witz bezieht.
Barrieren in der Arbeitswelt
Ich arbeite in einem Bürojob und bin auf digitale Tools angewiesen. Mein Arbeitgeber hat mich mit einem vergrößernden Bildschirm und einem leistungsstarken Screenreader ausgestattet. Dennoch stoße ich auf Probleme, wenn neue Software eingeführt wird, die nicht barrierefrei ist. Dann bin ich auf das Wohlwollen der Entwickler oder die Geduld meiner Kolleg*innen angewiesen, um Anpassungen vornehmen zu lassen.
Videokonferenzen sind für mich besonders anstrengend, da ich oft nicht erkennen kann, wer spricht oder welche Informationen auf einem geteilten Bildschirm gezeigt werden. Hier helfen mir klare Absprachen im Team und alternative Kommunikationswege, wie das Teilen von schriftlichen Zusammenfassungen.
Emotionale Aspekte und Wünsche
Manchmal fühle ich mich durch meine Sehbehinderung ausgeschlossen. Wenn ich bei einem Gespräch nicht mithalten kann, weil ich eine wichtige Information übersehen habe, entsteht das Gefühl, außen vor zu sein. Doch ich habe auch gelernt, offen über meine Einschränkungen zu sprechen und nach Unterstützung zu fragen.
Mein größter Wunsch ist eine Welt, in der digitale Barrierefreiheit selbstverständlich ist – mit gut lesbaren Webseiten, klaren Bildbeschreibungen und intuitiven Designs. Ich bin überzeugt, dass diese Schritte nicht nur mir, sondern vielen anderen Menschen helfen würden, selbstbestimmter zu leben.
Bis dahin bleibe ich neugierig und experimentiere weiter mit Technologien, die meine Welt ein Stückchen zugänglicher machen. Denn auch mit einer Sehbehinderung gibt es viele Wege, Teil der digitalen Gesellschaft zu sein – manchmal braucht es nur etwas mehr Geduld und Kreativität.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz 2025 für digitale Teilhabe
All diese Menschen mit Einschränkungen sind für ihre digitale Teilhabe bzw. die Teilnahme am öffentlichen Leben auf digitale Barrierefreiheit angewiesen. Noch dazu wird unsere Lebenswelt auch für alltägliche Anwendungen immer digitaler – Inklusion muss daher auch online stattfinden.
Oft haben wir ein besseres Verständnis, warum ein neues Gesetz wichtig ist, wenn Betroffene zu Wort kommen:
In einer Studie des SINUS Instituts aus dem Jahr 2020 wurden 55 Personen mit unterschiedlichen Behinderungen zu ihren Erfahrungen mit digitalen Medien im Arbeitskontext befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass trotz der Chancen, die digitale Technologien bieten, zahlreiche Barrieren bestehen:
Mangelnde Barrierefreiheit: Viele digitale Arbeitsmittel und -plattformen sind nicht für alle Behinderungsarten optimiert, was den Zugang erschwert.
Fehlende Schulungen: Einige Betroffene berichteten von unzureichenden Schulungsangeboten, um digitale Kompetenzen zu erwerben.
Technische Probleme: Assistive Technologien funktionieren nicht immer zuverlässig mit digitalen Arbeitsmitteln, was zu Frustration führt.